Dr. Sabine Kulenkampff über Brigitte Liebel
Brigitte Liebel begreift ihre Arbeiten mit selbstgebauten Lochkameras als eine Form von konzeptueller Kunst. Sowohl in der Seinsweise der gewonnenen Abbilder als auch im Arbeitsvorgang wird dies sinnfällig:
Die mit der Lochkamera aufgenommenen Bilder zeigen nicht nur, wie ein Objekt in einem kurzen Augenblick des Photographierens aussieht, sondern wie es dauerhaft existiert, sich bewegend oder ruhend Licht reflektiert. Das Abbild ist nicht reduziert auf eine in Sekundenbruchteilen erstarrte Momentaufnahme, sondern gibt einen von komplexen Bestimmungsfaktoren geprägten Wirklichkeitsausschnitt wieder. Die Camera obscura betont die Differenz zwischen dem Blick des Photographen, seiner Sichtweise der Dinge und dem aufgenommenen Gegenstand, sie führt nicht zu einem endlos kopierbaren Statement darüber, wie die Dinge sind, vielmehr entsteht im Betrachter die Frage danach, wie die Wirklichkeit des Abgebildeten sein und aussehen könnte.
Die Originallichtaufnahme verfremdet das Objekt und gibt ihm zugleich die Gelegenheit, im unvertrauten Erscheinen wirklich erfassbar zu werden. Gegenstand oder Ort „wachsen in ihr Abbild hinein“, das von ihnen reflektierte Licht wird gesammelt, nicht blitzartig festgebannt. Zugleich wird auf jeder Aufnahme die Modalität des Sammelns sichtbar, ist immer auch eine Metaebene des Lichtaufnehmens im Bild präsent – was die Megapixel-Sekundenaufnahme gerade zu leugnen versucht: Konventionelle, analoge und digitale, Photographie behauptet, dem Betrachter alles zu zeigen, was zu sehen ist, möglichst ohne vermeintlich störende Vermittlungsebene.
Brigitte Liebel „macht“ keine Photos per „Klick“, sie sammelt Licht, verzichtet auf besitzergreifende Autorschaft und den Anspruch, Eins-zu-Eins erkennbare Abbilder festzuhalten. Sie beschränkt die Subjektivität ihres Zugriffes auf die Auswahl des Motivs, die Planung des Projektes im Sinne einer Versuchsanordnung.
Umfangreiche technische Vor- und Nacharbeiten werden von ihr geleistet, um Licht, Zeit und Objekt einander auszuliefern und ihre Interaktion zu ermöglichen. Das wohlvorbereitete Loslassen der Camera-Obscura-Künstlerin gibt dem Abbildungsprozess größtmöglichen Raum.
Nach der Wahl des Themas wird zunächst ein geeigneter Lichtsammelapparat gebaut. Diese in Größe und Form der erhofften Wirkung angepassten Kästen, Röhren oder Container sind Kunstwerke für sich und werden in Liebels Ausstellungen oft mitpräsentiert. Nach präziser physikalischer Berechnung, aber auch mit viel Intuition wird aus der Aufnahmekonstellation Objektgröße/Kameratiefe/Stärke des zu sammelnden Lichtes die erforderliche Lochgröße der Camera-obscura-Öffnung und die Belichtungsdauer errechnet. Bis zum Kontakt des Motivs mit dem Sammelapparat wird der Verschluss jedoch streng verschlossen gehalten.
Der eigentliche Vorgang des Lichtsammelns ist wie eine rituelle Handlung zu betrachten, die Künstlerin lässt geschehen und wartet. Da die Bewegung der Kamera während des Belichtungsvorganges zu Sondereffekten führt, achtet sie ggf. darauf und verhindert sie.
Die Belichtungsöffnung wird sorgfältig wiederverschlossen. Nach der Arbeit in der Dunkelkammer werden die so entstandenen Unikate in die endgültige Präsentationsform gebracht und evtl. weiterverarbeitet.
Alle Endprodukte der Camera obscura – Lichtmalerei, wie man sie durchaus nennen könnte, enthalten aber noch einen Widerschein der Wirklichkeit des Gegenstandes, der Person oder des Ortes, den sie abbilden. Gerade weil das Lichtbild nicht konturenscharf ist, wird der Betrachter befähigt, sie zu entdecken.
Dr. phil. Sabine Kulenkampff, M.A.